Bessarion und die byzantinische Kultur
im öffentlichen Bewusstsein des späten 15. Jahrhunderts
Projektverantwortlicher: P.D. Dr. Sergei Mariev
Das Projekt wird von der DFG im Rahmen des Heisenberg-Programms gefördert.
Im öffentlichen Bewusstsein – zumindest dem westeuropäischen – führt Byzanz ein Schattendasein. Häufig wird es gar nicht als Bestandteil der eigenen, „europäischen“ Kultur angesehen, sondern als etwas exotisch Fremdes, im ungünstigsten Falle sogar als Leerstelle. Dabei ist andererseits die beträchtliche Bedeutung von Byzanz für die europäische Kulturgeschichte unbestritten: Während seiner mehr als 1000-jährigen Geschichte (ca. 330 bis 1453) spielte Byzanz nämlich eine zentrale Rolle als Bezugspunkt ebenso wie als Gegenspieler für die anderen euromediterranen Kulturen. Der byzantinistischen Forschung kommt demnach die Aufgabe zu, Byzanz aus seinem Nischendasein in der westlichen Forschung herauszuführen und das Bewusstsein für die Bedeutung von Byzanz in der Wissenschaft und in der breiten Öffentlichkeit zu schärfen.
Die Debatten über die Bedeutung des kulturellen Erbes der Byzantiner für die „europäische“ Kultur lassen sich indes bis in die zweite Hälfte des 15. Jh.s zurückverfolgen, d.h. bis zu der Zeit, als Byzanz im Jahr 1453 nahezu schlagartig von der politischen Landkarte verschwand, aber im öffentlichen Bewusstsein noch eine Zeitlang als feste Größe – vor allem in Bezug auf seine vielfältigen kulturellen Traditionen – bestehen blieb. In vielen Bereichen (etwa der politischen Theorie und Terminologie, Philosophie, Medizin u.s.w.) wurden im späten 15. Jh. die Weichen für die Byzanz-Rezeption bis in unsere Zeit gestellt. Gerade dieser Umstand macht die Erforschung der ersten Dezennien nach der Eroberung Konstantinopels besonders wichtig.
Bereits wenige Jahre nach dem Fall Konstantinopels 1453 brach in Italien eine erste öffentliche Diskussion über die Bedeutung des kulturellen Erbes der Byzantiner für das „Abendland“ aus. Sie entzündete sich an der Frage, ob die platonische Philosophie aus Byzanz eine Bereicherung oder, im Gegenteil, eine Bedrohung für die „westliche“ Welt darstelle. Bald weitete sich dieser Disput aus und entwickelte sich schließlich zu einer öffentlichen Debatte über die Vereinbarkeit des Platonismus mit der christlichen Lehre sowie über die Bedeutung der byzantinischen Bildungstraditionen und der griechischen Sprache für die Kultur des Abendlandes. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Diskussion 1458 mit der Veröffentlichung des Traktats „Comparatio philosophorum Platonis et Aristotelis“ des aus Byzanz stammenden Rhetoriklehrers und päpstlichen Sekretärs Georgios Trapezuntios (1395–1472/73). In dieser Schrift subsumierte er sämtliche geläufigen Ansichten über die platonische Philosophie und übermittelte viele gängige Vorurteile gegen die Platoniker. So verglich er im ersten Buch Platon mit Aristoteles unter dem Gesichtspunkt der Bildung und im zweiten Buch in Hinblick auf die Vereinbarkeit beider philosophischen Ansichten mit der christlichen Lehre. Im Zuge seiner Argumentation fällte er eine Reihe vernichtender Urteile sowohl über Platon als Person, den er für seine voluptas und depravitas (Stichwort: Homosexualität) tadelte, als auch über dessen seiner Ansicht nach mit der christlichen Lehre unvereinbare Philosophie. Im dritten und letzten Buch schließlich gerierte sich Georgios nachgerade als Prophet, quasi als „Rufer in der Wüste“, dessen Pflicht es sei, die gesamte westliche Zivilisation vor den düsteren Gefahren zu warnen, die ihr in seinen Augen durch die Verbreitung der platonischen Lehren drohten.
Mit seiner Kritik versuchte Georgios vornehmlich Bessarion zu treffen, allerdings ohne diesen im Text explizit beim Namen zu nennen. Bessarion, der bekannteste Schüler des byzantinischen Gelehrten Gemistos Plethon (1355–1452), lebte bereits seit 1440 als Kardinal der katholischen Kirche im Westen und galt mehrmals als aussischtsreichster Kandidat auf den Papstthron.
Unmittelbar nach dem Ende des Konklaves von 1458, in dessen Verlauf Bessarion unter anderem auch infolge der von Georgios ausgestreuten Gerüchte zum Papst nicht gewählt wurde, machte sich Bessarion mit dem Material, das von seinem Gegner verbreitet wurde, vertraut und nahm die Arbeit an einer ausführlichen Replik auf. Während der darauffolgenden zehn Jahre konzentrierten sich sämtliche Anstrengungen Bessarions und seiner gesamten Entourage darauf, ein von Georgios’ Sichtweise radikal divergierendes Bild der platonischen Philosophie und damit auch von Byzanz mit seinen vielfältigen religiösen und kulturellen Traditionen zu entwerfen, auszuarbeiten und mit allen verfügbaren Mitteln (wie z.B. mit Hilfe der Verbreitungsmöglichkeiten, die der neu aufkommende Buchdruck zur Verfügung stellte) publik zu machen. Fernab jeglicher Übertreibung lässt sich die Tätigkeit Bessarions und seiner Entourage nicht mehr nur als einfache Replik auf Georgios’ Publikation bezeichnen, sondern erreichte geradezu die Dimension einer Art „PR-Kampagne“ zur Beeinflussung der öffentlichen Wahrnehmung von Byzanz.
Gegenstand des Projekts ist das wichtigste und – von wenigen kleineren Werken abgesehen – das einzige philosophische Werk des Bessarion, In Calumniatorem Platonis („Gegen den Verleumderer Platons“, im Folgenden als ICP abgekürzt). Das Werk spielt eine zentrale Rolle bei der Rekonstruktion der Prozesse der Übertragung der platonischen Philosophie aus dem byzantinischen Osten in die Welt der Renaissance. Trotz seiner immensen Bedeutung ist das Werk der modernen philologischen und historischen Forschung immer noch nicht vollständig zugänglich. Der Forschung fehlt dadurch nicht nur ein beträchtlicher Teil des philosophischen œuvres des Bessarion: Ihr bleibt auch der Zugang zu einzigartigem Material verschlossen, das einen Einblick in die Erwartungen des gelehrten Publikums des 15. Jahrhunderts an die ersten Platon-Übersetzungen erlaubt, sowie das philologische und historischen Instrumentarium rekonstruieren lässt, mit dem es die Qualität der ersten Platon- Übersetzungen evaluieren konnte.
Als Ludwig Mohler seine Edition von Bessarions Schriften vorbereitet hatte, war ihm wohl weder die komplexe Entstehungsgeschichte des Werkes, noch die Bedeutung, die Bessarion selbst diesem Werk beigemessen hatte, hinreichend klar, denn nur so läßt sich die Vielzahl seiner gravierenden editorischen Fehlentscheidungen erklären, welche der Rezeption des Werkes bis heute im Wege stehen:
1.) Am schwerwiegendsten ist heute wohl die Entscheidung Mohlers zu beurteilen, die Einheit des ICP aufzulösen. Sowohl die griechische Version als auch die lateinischen Endfassungen, die unmittelbar unter den Augen Bessarions entstanden sind, bestehen jeweils aus 6 Büchern. Mohler hingegen hat entgegen Bessarions Intention nur die ersten 4 dieser Bücher für das ICP gehalten und unter diesem Titel im ersten Band seiner Edition publiziert. Das 6. Buch hingegen veröffentliche er zusammen mit einem Brief Bessarions an Theodoros Gazes als eine Art umfassendere Version desselben im 2. Band seiner Edition, der Briefen, theologischen Traktaten und Miscellanea aus der Feder Bessarions vorbehalten war. Das 5. Buch wurde von Mohler überhaupt nicht ediert und blieb damit der modernen Forschung bis heute unzugänglich.
2.) Mohler hat außerdem nicht erkannt, dass es sich bei den griechischen und lateinischen Endfassungen des Werkes nicht um ein „Original“ und eine „Übersetzung“ ein und desselben Werkes handelt, – wobei dem Original die Priorität gegenüber einer defizitären „Übersetzung“ eingeräumt wurde – sondern um zwei Versionen ein und desselben Werkes, die auf die Bedürfnisse des griechischen bzw. des lateinischen Publikums zugeschnitten waren. Die Neuedition dieses Werkes soll daher nicht nur die Defizite der „Übersetzung“ gegenüber dem „Original“ apostrophieren, sondern auch und in erster Linie die Passagen hervorheben, welche sich wechselseitig erhellen bzw. die Stellen, an denen sich die beiden Fassungen ergänzen (wie z.B. die Quellen, die nur in einer und nicht in der anderen Fassung zitiert und analysiert werden).
3.) Mohlers Text weist zahlreiche Auslassungen, fehlerhafte und dadurch den Text entstellende Lesarten sowie eine irreführende Interpunktion auf, was zu erheblichen Missverständnissen bei der Übersetzung und Interpretation des Textes führen kann und auch in der Vergangenheit nachweislich geführt hatte. In der Edition des 6. Buches (Mariev et al. 2015) wurden 114 Veränderungen des griechischen und 23 des lateinischen Textes gegenüber Mohlers Textfassung, welche in seiner Edition lediglich 54 Seiten umfasst, vorgenommen. Ausgehend von der Annahme, dass die Qualität von Mohlers Text konstant ist, lässt sich die Anzahl möglicher Korrekturen im Rahmen einer Neuedition der Bücher 1–4, die bei Mohler 631 Seiten umfassen, auf nicht weniger als 1325 Veränderungen im griechischen und 268 im lateinischen Text hochrechnen.
Anmerkung
Bild 1:
"La fresque de Benozzo Gozzoli est susceptible d'une interprétation polyphonique : les mages sont ceux du Nouveau Testament. En même temps, ce sont des mages dépositaires de trésors et de la sagesse la plus ancienne, qui viennent prêter hommage au christianisme; la sagesse passe de l'Orient lointain à la Grèce, puis à la Florence des Médicis. Le mage ancien est à la fois Balthasar et un mage, c'est-à-dire un sage, disciple de Zoroastre. C'est grâce au basileus byzantin et aux philosophes de sa suite, qu'à l'époque du concile, et depuis la chute de Constantinople, cette sagesse a été transmise à Florence qui, grâce aux mécénat des Médicis, devient le centre du renouveau religieux, moral et politique." (B. Tambrun, Pléthon le retour de Platon, Paris, 2006, 29).
Bild 2:
A. Gentili, Bessarione sí e no nel ciclo di Vittore Carpaccio per las Scuola degli Schiavoni, in "Il ritratto e la memoria", II, a cura di A. Gentili, Roma 1993, S. 197–206. Vgl. A. Gentili, Carpaccio e Bessarione, in "Bessarione e l'umanesimo", S. 297–302.
Bild 3:
John Monfasani, George of Trebizond: a biography and a study of his rhetoric and logic. 1976.